26.9.24

War „Rot-Grün“ ein Projekt? Der Vergleich mit der „Ampel“

Als 1998 die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder gewählt wurde, war ich, wie viele junge Menschen, voller Hoffnung.

Die Wahl fand wenige Wochen vor meinem 18. Geburtstag statt. Wählen durfte ich noch nicht.

Ich verband mit der Abwahl Helmut Kohls einen grundsätzlichen Neuanfang auf vielen Politikfeldern.

Wirtschaftlich sah es damals schlecht aus. Die Arbeitslosigkeit war hoch und stieg weiter, ebenso die Staatsverschuldung. Das „Bündnis für Arbeit“ von Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern (als Vorbild diente hier die „Konzertierte Aktion“ der 1960er-/1970er-Jahre) war gerade gescheitert. „Reformstau“ war ein geflügeltes Wort. Auch gesellschafts- und umweltpolitisch ging nichts voran.

Schröders Regierung geriet bald nach Amtsantritt in Turbulenzen. Es fing an mit dem frühen Rücktritt von Oskar Lafontaine (SPD) als Bundesfinanzminister. Es folgten der Kosovokrieg und der NATO-Angriff auf Jugoslawien, was wiederum die Grünen in moralische Turbulenzen stürzte. Viele Landtagswahlen gingen verloren.

Erst – ausgerechnet – mit einem Auftritt des Bundeskanzlers bei „Wetten, dass…?“ und der Rettung des Holzmann-Konzerns wendete sich das Blatt. Auch die Spendenaffäre der Union half der rot-grünen Regierung in den Umfragen.

Die Zeiten wurden ruhiger. Der 11. September 2001 markierte für den Westen eine „Zeitenwende“ (um Olaf Scholz zu zitieren). Am Afghanistan-Krieg beteiligte sich die Bundeswehr, am Irakkrieg nicht. Beides geschah mit großer Zustimmung der deutschen Bevölkerung. 

Doch die Wirtschaftsdaten wurden nicht besser. 

Erwerbslosigkeit und Staatsverschuldung blieben hoch. Deutschland galt, wie zu den Spätzeiten der Ära Kohl, immer noch als „kranker Mann Europas“. Infolgedessen schob Kanzler Schröder seine „Agenda 2010“ an. Die in seiner eigenen Partei hochumstritten war. Er setzte sie durch. Nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen setzte Schröder Neuwahlen im Bund an, die er knapp verlor, aber seine Partei immerhin in eine große Koalition rettete.

War „Rot-Grün“ nun ein Projekt?

Ich würde das so sehen: Ähnlich, wie jetzt unter der „Ampel“, wurden gesellschaftspolitisch Fortschritte erzielt. Das Staatsbürgerschaftsrecht wurde modernisiert, die Eingetragenen Lebenspartnerschaften wurden eingeführt, der Atomausstieg eingeleitet. Das als Beispiel. 

Doch die Probleme waren damals, ähnlich wie heute, die Wirtschaft und das Soziale. Die „Ampel“ heute hat, als Zusatzprobleme, noch den Streit um die Löcher im Bundeshaushalt, die Energiewende, sowie erstarkende rechtsextreme und populistische Konkurrenz. Das macht die Situation noch komplizierter als für "Rot-Grün" damals.

Wird die „Ampel“ 2025 weiter machen?

Der Wähler wird entscheiden.

Wir werden es sehen.

22.9.24

Warum mein Vater nicht wie Horst Schlämmer war. Oder: Frau Fleischfresser

Gestern las ich in der Zeitung ein Interview mit Hape Kerkeling. Darin gab er bekannt, die Journalistenkarikatur Horst Schlämmer wiederaufleben lassen zu wollen.

Meine Eltern lebten bescheiden. Meine Mutter war protestantisch-calvinistisch in Norddeutschland aufgewachsen. Mein Vater kaufte seine Anzüge grundsätzlich bei C&A. Unsere Möbel waren fast ausschließlich von IKEA. Ich erinnere mich an stundenlange, streitumwobene Aufbauaktionen.

Nach dem Hausbau Mitte der Neunzehnachtziger hatten meine Eltern so wenig Geld, dass meine Mutter mir die Haare schnitt. Ich erzählte das, kindestypisch, freudig meinen Kindergärtnerinnen. Was sie sich wohl gedacht haben mögen? Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl brachte ich mein eigenes Essen in den Kindergarten mit, wenn es mal Hackfleisch, Steinpilze, Pfifferlinge oder Milch gab. So konsequent war meine Mutter.

Außerdem fuhren wir regelmäßig zu Frau Fleischfresser. Frau Fleischfresser (sie hieß wirklich so) hatte zwei ältere Söhne. Deren Kleidung musste ich auftragen. Die Pullover kratzten, die Hosen waren zu weit. Ich mochte das nicht. Aber so war das damals. Die Musik der Achtziger liebe ich bis heute heiß und innig. Aber ich verkläre diese Zeit nicht. Vieles war grau. Und auch politisch war Einiges los. Erst 1989 entspannte sich die Lage.

Um auf Horst Schlämmer zurück zu kommen: Die Figur ist, das schrieb ich bereits einmal, so lustig, dass es weh tut. Aber Journalisten sind nicht so. Auch Lokalredakteure nicht. Ich hatte, trotz aller Konflikte, die ich mit meinem Vater hatte, ein gutes Verhältnis zu ihm.

Und ich vermisse ihn und meine Mutter sehr. Letzte Nacht habe ich von ihnen geträumt.

Ich werde sie nie mehr wieder sehen.

7.9.24

Das müsst Ihr wissen, wenn Ihr…

 ...Politikwissenschaften studieren wollt.

Vorweg: Ich habe 2008 meinen Magisterabschluss gemacht, also noch nach dem „alten“ System vor Bachelor/Master studiert. Zudem hatte ich zwei Nebenfächer belegt, was so, so weit ich weiß, heute auch nicht mehr geht.

Deswegen kann ich zur Struktur und zu formalen Anforderungen des modernen sozialwissenschaftlichen Studiums (BA/MA) nichts sagen.

Aber vielleicht etwas zu den Inhalten.

Man lernt z. B. die drei Begriffe für „Politik(wissenschaften)“ im Englischen voneinander, zu unterscheiden: Politics, policy und polity.

Oder man befasst sich mit den „großen Vordenkern“ wie Max Weber (der war allerdings Soziologe, was mein Nebenfach war), Niklas Luhmann, Theodor Adorno oder Max Horkheimer. Also „Politische Theorie“, die für manche etwas trocken erscheinen mag. Aber sie gehört dazu.

Ein anderes Feld sind die „Internationalen Beziehungen“. Ich hatte z. B. eine Professorin, die sich in den Siebziger und Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem damals zeitgenössischen Thema „Gewerkschaften in Osteuropa“, insbesondere Polen, beschäftigt hatte. Durch die Wende 1989/1990 war das eher ein Thema für Historiker geworden. Und so hatte sie sich später allgemein mit europäischen, bzw. osteuropäischen, Themen beschäftigt.

Woran man auch nicht vorbei kommt, sind die „Methoden der Sozialwissenschaft“. Dafür braucht man Mathematik. Genauer gesagt, Wahrscheinlichkeitsrechnung bzw. Stochastik. Was ich in der Schule nicht durchgenommen hatte (wir hatten Lineare Algebra im Abitur). Deswegen habe ich mich mit „Datenerhebung“ und „Datenanalyse“ (so die Titel der damaligen zwei Pflichtkurse) recht schwer getan. Aber wenn man einmal in der „Empirischen Sozialforschung“ drin ist, kapiert man es. Wichtig ist: Rechnen im „klassischen Sinne“ musste ich nicht. Wichtig sind heutzutage auch Kenntnisse in Statistik-PC-Programmen wie „SPSS“.

Es gibt auch Kurse etwa zu „Politischen Systemen“ bzw. „Vergleichende Politiklehre“, zur Parteienforschung, zur Europäischen Union (bzw. Integration), medienwissenschaftliche Fragestellungen, oder philosophisch angehauchte Themen. Das hängt immer von den Schwerpunkten der Professoren an der jeweiligen Universität ab.

Einen Fehler darf man aber nicht machen: Man darf nicht glauben, im Fach „Politikwissenschaft“ geht es vorrangig um aktuelle Politik. Darum geht es am Rande. Meist erst dann, wenn man bereits fortgeschritten ist. Dann kann man Politik besser verstehen und einordnen.

Wichtig sind gute Englischkenntnisse, Mathematikkenntnisse, Interesse an Grundsatzdiskussionen, sowie ein breites Allgemeinwissen und ein gutes schriftliches und mündliches Ausdrucksvermögen . Wenn Ihr das mitbringt, und Euch für das Studium interessiert, setzt Euch einfach mal in eine Vorlesung an der Uni Eurer Wahl. Schaut Euch in Vorbereitung entsprechende YouTube- oder TikTok-Videos an. Aber macht davon nicht Eure Entscheidung abhängig.

Das Studium muss sich für Euch gut und sinnvoll anfühlen. Für niemanden sonst.

2.9.24

Warum ich für „Protestwähler“ kein Verständnis habe

Die Wahlen in Sachsen und Thüringen sind vorbei. Wie erwartet, werden die Rechten im Erfurter Landtag stärkste Partei. In Sachsen liegen sie nur knapp hinter den Konservativen.

Was bedeutet dieses Wahlergebnis nun für diese Bundesländer und die Bundespolitik?

Auf Landesebene zunächst einmal, dass eine Regierungsbildung schwierig wird. An Sahra Wagenknechts neuer Partei geht möglicherweise in beiden Bundesländern kein Weg vorbei. Problem: Diese Partei hat weder Personal, noch Programm, um Landespolitik zu betreiben.

Ein Scheitern möglicher Koalitionsverhandlungen halte ich daher für möglich bis wahrscheinlich.

Im Bund? Die Ampel wird wohl weiterregieren. Was bleibt ihr auch übrig. Und wenn jemand über die Politik in Deutschland meckert, der muss Wählerschelte betreiben. Denn die Menschen selbst haben dieses Ergebnis herbei gewählt.

Dann müssen sie auch mit den Konsequenzen leben.

23.8.24

Ein Jahr vor der Bundestagswahl: Gedankenspiele

In der Zeitung las ich heute, dass Union und Grüne die Idee einer schwarz-grünen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl 2025 durchspielen.

Hendrik Wüst aus NRW könnte sich das vorstellen. Markus Söder aus Bayern eher nicht. Auch in der Grünenspitze machen einige der Union Avancen, nachdem man dort die „Ampel“-Regierung als „Übergangskoalition“ abqualifiziert hat.

Das Problem: Wenn heute Bundestagswahl wäre, würde es für eine klassische Zweierkoalition nicht reichen. Möglicherweise gar nicht mehr.

Ich hatte hier ja schon nach der Europawahl geschrieben, dass mich die Mehrheitsverhältnisse bei dieser Wahl an „Weimar“ erinnerten. Natürlich ist unsere Demokratie gefestigter als damals. Aber das heißt nicht, dass es – wie in früheren Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg – eindeutige Mehrheitsverhältnisse gibt.

Ich glaube, die derzeit im Bundestag sitzenden demokratischen Parteien haben die Veränderungen, das volatile Wahlverhalten, noch gar nicht realisiert. Das zeigt die Debatte um „schwarz-grün“.

Im Osten sind in Umfragen rechtsextreme (AfD) und populistische (BSW) Parteien stark. Gestern las ich die aktuellen Umfragen im Teletext der ARD: Wenn heute Wahl in Sachsen wäre, müsste die Union dort – nach meiner Rechnung – zwangsläufig eine Koalition mit dem BSW eingehen. In Thüringen müsste sie zudem noch die SPD mit ins Boot holen.

Im Westen sind die Extreme zwar noch nicht so stark. Aber auch dort ist es für klassische Lagerkoalitionen schwierig. In NRW, meinem Heimat-Bundesland, hat es seit 2005 quasi nach jeder Landtagswahl einen Regierungswechsel gegeben.

Ein Jahr ist in unserer Mediendemokratie eine lange Zeit. Es macht also wenig Sinn, jetzt schon über die Zeit danach zu spekulieren.